02. Mai 2025 CoachingPodcastLesezeit: 10 MinutenVon Uschi Kellenberger

Die Sündenbock-Dynamik: Wie sie entsteht und wie du sie vermeiden kannst

Podcast

Anderen die Schuld zuzuschieben ist eine weitverbreitete Dynamik, die jeder Gemeinschaft mehr schadet als nützt. Erfahre hier, was es damit auf sich hat und warum die GFK ein ideales Gegenmittel dafür ist.

Was ist ein Sündenbock?

Wenn sich eine Mehrheit gegen einen «Schuldigen» wendet, obwohl die Verantwortung nicht allein oder überhaupt nicht bei ihm liegt, dann bezeichnet man diesen als Sündenbock. Die Suche nach einem Sündenbock ist in der Regel tief in unserem System verwurzelt und hat sowohl evolutionäre, soziale als auch kulturelle Ursprünge. Es hilft uns, die Komplexität der Probleme durch Benennung eines Schuldigen zu reduzieren. Wir brauchen uns nicht mit dem eigenen Fehlverhalten oder Versäumnissen auseinandersetzen. Wir schonen somit unser System, um im Funktioniermodus zu bleiben. In Gruppen oder Teams stärkt es den Zusammenhalt, wenn sich viele gegen einen stellen, der die Schuld trägt. Das schafft eine gemeinsame Identität und lenkt von internen Problemen ab.

Woher kommt der Begriff «Sündenbock»?

Der Begriff «Sündenbock» hat religiöse Wurzeln. Ein Ziegenbock wurde symbolisch mit den Sünden des Volkes beladen und in die Wüste geschickt. In der Geschichte haben Herrscher oder Machthaber oft Feindbilder erschaffen, um von eigenen Fehlern abzulenken oder Menschen zu vereinen (z. B. Hexenverfolgung). Ich finde, das Thema ist heute nach wie vor aktuell. Es gibt auch politische Sündenböcke. Der Begriff wurde zu einer mächtigen sozialen Metapher, die erklärt, warum Menschen Schuld auf andere abwälzen, um sich selbst zu entlasten. Der Sündenbockmechanismus ist eine tief verwurzelte Dynamik, mit der Gesellschaften Gewalt und Chaos bewältigen – aber auf eine zerstörerische Weise. Die Herausforderung besteht darin, diesen Mechanismus zu erkennen und zu durchbrechen, indem man Konflikte nicht durch Schuldzuweisungen, sondern durch Empathie, Kommunikation und Gerechtigkeit löst.

Die Mechanismen der Schuldzuweisungen

Wenn Menschen nicht lernen oder gelernt haben, Selbstreflexion und Verantwortungsübernahme zu praktizieren, greifen sie eher zu Schuldzuweisungen, wenn etwas schiefgeht. Das Verurteilen anderer ist ein in der Regel erlerntes Verhalten, das zur Gewohnheit wird, um die Aufmerksamkeit von den eigenen Anteilen an einer Situation abzulenken und führt dazu, dass man sich selbst nicht hinterfragt. Vor allem dann, wenn man sich machtlos fühlt und den Gedanken hat, dass es unfair ist. Woher kommt das? In den meisten Fällen, so auch bei mir, ist es erlernt. Kinder lernen durch Beobachtung der Erwachsenen um sie herum, wie man in verschiedenen Situationen reagiert. Wenn sie häufig sehen, dass Erwachsene in Konfliktsituationen anderen die Schuld geben, übernehmen sie dieses Verhalten als normale Reaktion auf Probleme. In Familien, in denen Schuldzuweisungen häufig vorkommen, wird dieses Verhalten oft von einer Generation zur nächsten weitergegeben. Kinder, die in einem Umfeld aufwachsen, in dem Verantwortungsvermeidung durch Schuldzuweisungen üblich ist, übernehmen dieses Verhalten. Wenn Menschen sehen, dass das Schuldzuweisen dazu führt, dass sie Strafen, Kritik oder unangenehmen Konsequenzen entgehen, wird dieses Verhalten noch verstärkt. Wenn zum Beispiel ein Kind lernt, dass es durch das Beschuldigen eines Geschwisters einer Strafe (unangenehme Konsequenzen oder Kritik) entgeht, wird es dieses Verhalten beibehalten.

Warum beschuldigen wir andere Menschen?

Schuldzuweisen gilt in unserer Kultur als normal und akzeptabel. Es ist eine übliche Reaktion im beruflichen und privaten Bereich auf Probleme. Es kann durchaus einfacher sein, die Schuld auf andere zu schieben, anstatt sich selbst für ein bestimmtes Ereignis oder ein Missgeschick verantwortlich zu machen. Die Verantwortung wird abgewälzt. In den meisten Fällen findet die Schuldzuweisung unter hoher Emotionalität statt. Der Mensch sieht sich bedroht und fühlt sich unsicher. Deshalb wird umgehend ein Sündenbock gesucht und in der Regel auch gefunden, um die eigenen negativen Emotionen (z.B. innere Anspannung, Ärger, Ohnmacht) nicht fühlen zu müssen, beziehungsweise, sie zu entlasten.

Das Beschuldigen anderer kann helfen, diese Spannung zu verringern. Dies ist ein Zeichen, dass der gesunde Umgang mit den eigenen Gefühlen noch optimiert werden darf. Es ist in gewissem Masse auch ein Selbstschutz bzw. eine Verteidigung des Selbstwertes. Das Beschuldigen anderer ist kurzgesagt eine Abwehrreaktion. Sie dient vor allem dazu, das eigene Selbstwertgefühl zu schützen, Verantwortung zu vermeiden, innere Spannungen und negative Gefühle zu reduzieren und Kontrolle über eine Situation zu gewinnen, die einem bedrohlich erscheint. Es ist jedoch in vielen Fällen ein unproduktives Verhalten mit erheblichen negativen Auswirkungen auf das Zusammenleben, das die Lösung von Problemen erschwert und Beziehungen belastet.

Was bewirkt Schuldzuweisung im menschlichen Miteinander?

Das Suchen eines Sündenbocks hat tiefgreifende Auswirkungen auf das menschliche Miteinander. Als erstes möchte ich hier anführen, dass durch Schuldzuweisungen das Vertrauen einer Beziehung erheblich beeinträchtigt wird. Vertrauen basiert auf Ehrlichkeit, Offenheit und gegenseitiger Verantwortung. Schuldzuweisungen untergraben diese Grundlagen. Wir alle haben vermutlich die Erfahrung gemacht, dass Vertrauen schnell zerstört ist. Es benötigt Zeit, um es wieder aufzubauen!
Meistens führen Schuldzuweisungen zu Spannungen, Misstrauen und Konflikten, da sie in der Regel als Angriff empfunden werden. Anstatt gemeinsam nach Lösungen zu suchen, führen Schuldzuweisungen oft zu Verteidigungsreaktionen, Gegenschuldzuweisungen und eskalierenden Streitigkeiten. Mit dem Resultat, dass die Kommunikation verschlossen oder gar vermieden wird. Eine Problemlösung rückt in weite Ferne, weil man gar keine Lust mehr hat, sich mit dem anderen abzugeben. Die Atmosphäre ist geprägt von Unwohlsein und emotionaler Unsicherheit und wir erleben ein toxisches Umfeld.
Die Eigenverantwortung und konstruktive Selbstreflexion werden abgelehnt. Statt sich kritisch mit der wahren Ursache eines Problems auseinanderzusetzen, wird die Schuld auf den anderen projiziert. Wenn Menschen in einem Umfeld leben, in dem ständig nach Schuldigen gesucht wird, entsteht Angst. Das Resultat: Menschen verhalten sich defensiv, trauen sich weniger, Fehler zuzugeben oder Risiken einzugehen. Kreativität, Innovation und ehrliche Kommunikation leiden unter dieser Atmosphäre.
Dieses Verhalten ist kein Kavaliersdelikt. Man kann sich auch nicht damit herausreden, dass es «normal» sei oder dass da noch andere sind, die gleich denken. Betroffene Personen werden langfristig gebrandmarkt, selbst wenn sich später herausstellt, dass die Schuldzuweisung ungerecht war. Das führt zu unendlichem, unsäglichem Leid, sozialer Isolation, psychischer Belastung und in extremen Fällen zu Mobbing oder Diskriminierung. Ich selbst kenne einen Fall, der zum Tod dieser Person geführt hat.
Auf lange Sicht schwächt der Sündenbockmechanismus unser menschliches Miteinander. Ein bewusster Umgang mit Fehlern und Problemen – durch Selbstreflexion, sachliche Ursachenforschung und offene Kommunikation – wäre der nachhaltigere Weg. Fehler dürfen als Lernmöglichkeiten betrachtet werden, anstatt Schuld auf Einzelne abzuwälzen.

Was kannst du tun, um aus dem erlernten Verhalten der Schuldzuweisung herauszufinden?

Veränderung ist oft unangenehm und erfordert Anstrengung. Das Praktizieren der GFK fördert die Übernahme von Verantwortung für die eigenen Gefühle und Handlungen. Anstatt anderen die Schuld zu geben, lernst du, die eigenen Bedürfnisse und Handlungen zu reflektieren und zu erkennen, wie sie zur Situation beigetragen haben. Dies hilft, das Muster der Schuldzuweisung zu durchbrechen, weil die Aufmerksamkeit auf die eigene Rolle und die eigenen Möglichkeiten zur Veränderung gelenkt wird.
Der so wichtige erste Schritt: Beobachtung anstelle von Interpretieren und Bewerten. Anstelle von vagen oder pauschalen Vorwürfen werden spezifische Beobachtungen formuliert, die frei von Bewertungen sind. Das komplette Ausschalten der Interpretationen verringert die Tendenz zu Schuldzuweisungen. Der Schlüssel liegt darin, zwischen echter Verantwortungsübernahme und ungerechter Schuldzuweisung zu unterscheiden.

Verantwortungsübernahme ist der Schlüssel

Verantwortungsübernahme ist der entscheidende Unterschied zwischen einer konstruktiven Fehlerkultur und einem destruktiven Sündenbock-Mechanismus. Statt eine Person für ein Problem zu opfern, wird analysiert, was wirklich schiefgelaufen ist. Dadurch entstehen nachhaltige Lösungen, anstatt nur Symptombekämpfung. Das bedeutet auch Menschlichkeit und Gerechtigkeit, wichtige Bedürfnisse, die wir im Miteinander erleben möchten. Wir brauchen ein menschlicheres und gesünderes Miteinanderumgehen.
Diese Punkte tragen dazu bei, den destruktiven Sündenbock-Mechanismus zu vermeiden:

  • 1. Kritische Reflexion statt Schuldzuweisung
    Fragen wie «Was ist passiert?» und «Wie können wir es in Zukunft besser machen?» sind hilfreicher als «Wer ist schuld?»
  • 2. Offene Kommunikation
    Ein Klima schaffen, in dem Menschen sich trauen, Fehler einzugestehen, ohne Angst vor ungerechten Konsequenzen.
  • 3. Gemeinsame Lösungen statt Sündenböcke
    Probleme systematisch angehen und sowohl als Team als auch jeder Einzelne: Verantwortung übernehmen!
  • 4. Führungskräfte als Vorbilder
    Chefs, Politiker oder andere Entscheidungsträger dürfen lernen Fehler zuzugeben, statt sie abzuwälzen.


«Alle wollen die Welt verändern, aber keiner sich selbst.»

Leo Tolstoi

Wie kann die Gewaltfreie Kommunikation dazu beitragen?

Die Gewaltfreie Kommunikation ist ein ideales und geeignetes Gegenmittel zur Sündenbock-Dynamik. Ich beschäftige mich seit 2008 mit der GFK und kann dies wirklich bestätigen. Wenn man Gewaltfreie Kommunikation (GFK) nicht nur als Technik, sondern als tiefere Lebenshaltung betrachtet, ist sie absolut hilfreich, den Sündenbock-Mechanismus zu durchbrechen und echte Verantwortungsübernahme zu leben.
Das fördert Verständnis, Verbindung und Lösungsorientierung, aber vor allem mehr Menschlichkeit und Wohlwollen anderen gegenüber und schlussendlich auch sich selbst gegenüber. Statt vorschnell zu urteilen, übt man sich in Empathie – für sich selbst und andere. Die Frage ist nicht «Wer ist schuld?», sondern «Was ist gerade wirklich los? Welche Bedürfnisse wurden nicht erfüllt?»
Das erfordert jedoch eine neue Denkweise (die zugegebenermassen etwas Übung erfordert), in der Menschen nicht mehr als «gut» oder «böse» kategorisiert werden, sondern als Handelnde mit bestimmten Bedürfnissen und Gefühlen. Anstatt die Schuld zu externalisieren: «Du bist schuld, dass es mir schlecht geht» und durch Vermeidung der eigenen Emotionen den Frust auf andere zu projizieren, übernehmen wir die Verantwortung: «Ich bin verantwortlich für meine Gefühle, du bist verantwortlich für deine.» Wenn Menschen wütend oder frustriert sind, brauchen sie dringend eine Erklärung für ihre Emotionen und eine Hilfestellung damit umzugehen. Deswegen benenne ich auch immer wieder, dass GFK hilft unsere eigenen Emotionen zu erkennen, zu verstehen und angemessen damit umzugehen.
Wahre Gemeinschaft entsteht durch Ehrlichkeit, Mitgefühl und gegenseitiges Verständnis – nicht durch gemeinsame Feindbilder. Ich erlebe in meiner Tätigkeit immer wieder, dass auch schwierige Konflikte gelöst werden, ohne dass jemand als Opfer oder Täter definiert wird. Denn eins darf man bedenken: Der Ausschluss eines «Schuldigen» schafft kurzfristig ein Gemeinschaftsgefühl, indem sich der Rest der Gruppe gegen ihn verbündet. Doch langfristig entstehen Misstrauen und Angst, selbst zum nächsten Sündenbock zu werden. Ich schaffe mit GFK einen sicheren Raum, in dem Menschen sich trauen, ihre eigenen Anteile anzuerkennen, weil sie wissen, dass sie gehört werden.
Die Gewaltfreien Kommunikation ist ein tiefgreifendes Gegenmittel gegen die reflexhafte Suche nach Schuldigen. Statt auf Schuld und Strafe setzt sie auf Verständnis, Selbstverantwortung und gemeinschaftliche Lösungen. Das bedeutet nicht, dass Fehlverhalten ignoriert wird – sondern dass es in einer Weise angesprochen wird, die Wachstum und Verbindung ermöglicht, anstatt Spaltung und Angst zu erzeugen.
Wenn Menschen diese Haltung wirklich verinnerlichen, verändert sich nicht nur die Art, wie sie kommunizieren, sondern auch die Art, wie sie mit Konflikten, Fehlern und Verantwortung umgehen – auf individueller, zwischenmenschlicher und gesellschaftlicher Ebene. Durch die konsequente Anwendung von GFK kannst du tief verwurzelte Verhaltensmuster wie Schuldzuweisungen, definitiv verändern und ganz viel inneren und äusseren Frieden gewinnen.
Entdecke jetzt unsere Seminare zur Gewaltfreien Kommunikation! Hier werden der Umgang mit Gefühlen und Bedürfnissen und die Übernahme von Verantwortung für die eigenen Anteile eingeübt.

Unterstützung bietet mein Buch:

Konfliktklärung durch empathische Wurzelwolf®-Konfrontation
In Marshall B. Rosenbergs Konzept der Gewaltfreien Kommunikation symbolisiert der Wolf die lebensentfremdende Kommunikation, den Auslöser von Missverständnissen und Konflikten.

Zu kaufen HIER.

Produkt wurde dem Warenkorb hinzugefügt. Zum Warenkorb