26. September 2024 SeminarLesezeit: 4 MinutenVon Uschi Kellenberger

Immer Gefühle zeigen? Eine Einladung zum Abwägen

Wann du deine Gefühle zeigen möchtest und wann es vielleicht auch gut ist, sie zurückzuhalten und sie erst selbst zu reflektieren bzw. eine gewisse Distanz zum Gegenüber zu halten – hier ist eine Einladung zum Abwägen.

Das Benennen von Gefühlen ist ein fester Bestandteil des Vier-Schritte-Modells nach Rosenberg. In unseren Einführungsseminaren lernen die Teilnehmenden, dass es unerlässlich ist, ihre Gefühle offenzulegen. In der Praxis erleben sie jedoch, dass die Reaktionen auf solche Gefühlsäusserungen häufig abweisend, perplex oder unbeholfen sind. Doch wie lässt sich Gelerntes und Erfahrenes vereinen? Eine kurze Einladung zum Abwägen.

Emotionen gelten als unprofessionell

In vielen Gesellschaften, so auch in der unseren, wird das Zeigen von Gefühlen meist als Schwäche betrachtet. Solche sozialen Konventionen und Normen beeinflussen stark unser Verhalten im Alltag. Insbesondere in der Arbeitsumgebung wird oft erwartet, dass du deine Gefühle im Zaum hältst. Emotionale Ausbrüche gelten als unprofessionell und könnten die berufliche Reputation beeinträchtigen. Sachlich zu argumentieren, scheint die einzig erlaubte Option zu sein. Daher verbergen viele Menschen ihre Gefühle, um sich als kompetent und belastbar zu präsentieren.

Viele sind sich ihrer Gefühlslage noch nicht einmal bewusst. Sie können ihre Gefühle nicht klar identifizieren oder benennen, so dass es ihnen schwerfällt, überhaupt darüber zu sprechen. Wenn jemand nicht die richtigen Worte findet, um seine Gefühle auszudrücken, bleibt er oft lieber stumm.

Ursachen für einen eingeschränkten Gefühlswortschatz

Wie man mit Gefühlen umgeht, haben viele Menschen nie gelernt. In der Kindheit wurden sie möglicherweise nicht ermutigt, über ihre Gefühle zu sprechen. Stattdessen fielen Sätze wie “Reiss dich zusammen” oder “Stell dich nicht so an”. Eltern oder Erziehungsberechtigte waren eventuell nicht in der Lage angemessene emotionale Unterstützung anzubieten und den Kindern beizubringen, wie man Gefühle ausdrückt. Sei es aus fehlendem Wissen, mangelnder emotionaler Intelligenz, ebenfalls fehlendem Gefühlswortschatz oder persönlichen Umständen (Überforderung mit den eigenen Gefühlen) heraus.

Dies führt dazu, dass Kinder ihre Gefühle verbergen, unterdrücken oder verdrängen, weil sie den Eindruck gewinnen, damit nicht willkommen zu sein. Es fehlte also an Vorbildern: Erwachsene, die zeigen wie man Gefühle verbalisiert und angemessen, also rechtzeitig, ausdrückt. Diese Prägung begleitet viele oft bis ins Erwachsenenalter.

Wenn wir lernen, unsere Gefühle klar auszudrücken, schaffen wir eine Atmosphäre des Verständnisses und der Verbindung.

Marshall B. Rosenberg (1934-2015)

Umgang mit den Gefühlen anderer Menschen

Wenn Menschen nie gelernt haben, ihre eigenen Gefühle zu verstehen und zu regulieren, fällt es ihnen schwer, mit den Gefühlsausbrüchen anderer umzugehen. Sie fühlen sich hilflos oder überfordert und versuchen oft, die Situation durch Ablenkung oder Kleinreden schnell zu lösen.

Bei einer solchen Reaktion auf das ehrliche Zeigen, denkt sich die Person, die sich geöffnet hat, meist dass sie nicht gehört oder verstanden wurde. Kein Wunder also, dass viele Teilnehmende in den GFK-Grundlagenseminaren der Empathie-Werkstatt® die Frage stellen, ob es denn immer nötig sei, die eigenen Gefühle offenzulegen.

Was passiert, wenn du deine Gefühle verschweigst

Um diese Frage abzuwägen, kannst du dir die Folgen des sich nicht Zeigens vergegenwärtigen: Wenn du deine Gefühle verbirgst oder Schwierigkeiten hast, deine Gefühle zu kommunizieren, kommt es mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Problemen in deinen zwischenmenschlichen Beziehungen. Häufig sind Missverständnisse und Konflikte das Resultat des Verschweigens, wie es wirklich um dich bestellt ist, denn du kannst keine Nähe und Verbindung zum anderen herstellen.

In Gruppendynamiken ist es besonders sichtbar: Gefühle zeigen sich neben dem verbalen Ausdruck auch in Form von Mimik und Gestik. Auch wenn zum Beispiel Wut zwar aus der Stimme rausgehalten wird, ist diese doch in der Anspannung des Körpers spürbar. Diese Zweideutigkeit der gesendeten Signale kann schnell zur Unsicherheit oder Irritation im Miteinander führen.

Wenn sich die Gefühle zu unkontrollierbaren Emotionen aufstauen, entsteht purer Stress. Dass dieser wiederum dem Körper Schaden zufügt, ist bekannt: Bluthochdruck und ein geschwächtes Immunsystem sind nur die Spitze des Eisberges. Innerlich macht es jedoch auch ganz viel dir, wenn du deine Gefühle unterdrückst: Durch die Unzufriedenheit rutscht dein Selbstwertgefühl auf einen Tiefpunkt. Eventuell ziehst du dich dann zurück, dein Wohlbefinden und deine persönliche Entwicklung können dadurch beeinträchtigt werden. Im schlimmsten Fall kann dies zu Depressionen und Angststörungen führen.

Empathie ist das Bindemittel unserer Gesellschaft

Das Vier-Schritte-Modell nach Rosenberg bietet einen leichten, strukturierten und logischen Aufbau, um integrativ und gewaltfrei zu kommunizieren. Das Zeigen von Gefühlen ist dabei ein fester Bestandteil dieses Modells. Indem wir unsere Emotionen ehrlich ausdrücken, können sowohl wir als auch andere diese besser wahrnehmen und gezielter emotionale Herausforderungen bewältigen.

Dazu kommt, dass Empathie das Bindemittel unserer Gesellschaft ist. Sie basiert auf dem Verständnis und dem Mitgefühl für die Gefühle anderer Menschen. Da Gefühle universell sind, kannst du unabhängig davon, woher du kommst oder welche Sprache du sprichst, mitfühlen und verstehen. Dies erleichtert die Kommunikation und den Aufbau von Beziehungen massgeblich. Nur durch eine solche Offenheit kannst du eine authentische, zwischenmenschliche Verbindung schaffen – die dazu das Vertrauen stärkt und das Sicherheitsgefühl fördert.

Gefühle auszudrücken ist lernbar!

Gefühle sind oft komplex und vielschichtig. Manchmal sind sie nicht einfach mit einem einzelnen Wort zu beschreiben. Wie bereits erwähnt haben viele Menschen gelernt, ihre Gefühle zu unterdrücken oder zu vermeiden, sei es aufgrund von negativen Erfahrungen in der Vergangenheit oder aufgrund gesellschaftlicher Erwartungen. Das Ausdrücken von Gefühlen erfordert oft ein gewisses Mass an Mut und Verletzlichkeit, das durch Zeit, Geduld und Übung entwickelt werden kann.
In meinen Seminaren beobachte ich, wie die Teilnehmenden durch verschiedene hilfreiche Übungen lernen, die Nuancen und Facetten besser zu erkennen und auszudrücken. Langsam wächst ein immer natürlicherer Umgang mit den eigenen Gefühlen. So dass es irgendwann das normalste der Welt ist, sie zu haben, Wörter dafür zu finden und sie zu benennen.
Insgesamt ist Empathie ein sehr starkes Werkzeug der Kommunikation: Durch gegenseitiges Mitfühlen und Verstehen kann es deutlich leichter sein, für die eigenen Bedürfnisse und die der anderen eine gemeinsame Lösung zu finden.

Aber: Nicht immer passt das Offenlegen der Gefühle zur Situation

Das Zeigen von Gefühlen ist ein kraftvolles Instrument, aber auch eine delikate, komplexe Angelegenheit. Eine gute Richtlinie ist immer das eigene Wohlbefinden. Manchmal willst du dich mitteilen und in Verbindung gehen. Und ein anderes Mal passt eine emotionale Verbindung einfach nicht. Es kann sein, dass eine aufgeheizte Situation durch die eigene Gefühlsoffenbarung nur noch explosiver wird, anstatt zur Lösung beizutragen. In solchen Fällen ist vielleicht Schutz oder etwas Abstand die bessere Alternative.

Ich finde es wichtig, persönliche Grenzen zu respektieren und zu erkennen, wann es angemessen ist, sich zu zeigen und über persönliche Gefühle zu sprechen und wann nicht. Manchmal ist es in Ordnung, bestimmte Emotionen für dich zu behalten, um dich erst einmal selbst zu klären, dich selbst zu schützen oder die Privatsphäre anderer zu respektieren. Hierfür ist es jedoch notwendig, deine eigene persönliche Grenze zu kennen, um dich dann klärend reflektieren zu können!

Ausserdem könnte eine professionelle Distanz in dem Moment angebrachter sein: Genauso wie nicht jeder Kontakt gleich (tief) ist, so ist es am besten, wenn auch bei dem authentischen Zeigen situationsbedingt differenziert und abgestuft wird: Es ist ein immer neues Abwägen.

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