
Schlechtes Gewissen als moralischen Kompass nutzen
Inhaltsverzeichnis
Wir alle kennen wohl diese unangenehme Befindlichkeit. Doch wenn wir genauer hinschauen, erkennen wir, dass hier vielfältige Mechanismen, Prägungen und Glaubenssätze im Spiel sind. Hier erfährst du, wodurch ein schlechtes Gewissen ausgelöst wird und wie du es mit Hilfe der GFK nicht mehr als Belastung, sondern als Wegweiser ansehen kannst.
Wie entsteht ein schlechtes Gewissen?
Ein schlechtes Gewissen entsteht in der Regel durch eine innere Spannung zwischen unseren moralischen Überzeugungen, Werten oder Normen und der Vorstellung, gegen diese verstossen zu haben oder im Widerspruch zu ihnen zu stehen. Es ist ein wesentlicher Bestandteil unseres moralischen und sozialen Bewusstseins, das uns hilft, unser Verhalten zu reflektieren und uns an die Werte zu erinnern, nach denen wir leben möchten. Das schlechte Gewissen hängt mit unterschiedlichen Gefühlen und inneren Zuständen zusammen:
1. Schuld und Scham
Das schlechte Gewissen ist eng mit Schuld und Scham verbunden. In diesem Zusammenhang möchte ich dich dazu inspirieren, es mithilfe der Prinzipien der Gewaltfreien Kommunikation (GFK) aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Marshall B. Rosenberg, der Begründer der GFK, sieht Schuld und Scham als Gefühle, die aus bestimmten Denk- und Bewertungssystemen entstehen. Diese basieren häufig auf moralischen Urteilen, die zwischen „richtig“ und „falsch“ oder „gut“ und „schlecht“ unterscheiden. Vielleicht bist du, wie auch ich, mit der Vorstellung aufgewachsen, dass bestimmte Handlungen grundsätzlich „schlecht“ sind. Je nach Erziehung, Kultur oder Religion entwickeln wir individuelle moralische Systeme.
Menschen empfinden häufig Schuldgefühle, wenn sie den Eindruck haben, anderen geschadet oder sie enttäuscht zu haben. Dies hängt eng mit unserer Veranlagung Empathie aufzubringen zusammen, da wir uns in die Perspektive anderer hineinversetzen und ihr potenzielles Leid nachempfinden können. Empathie ist eine natürliche menschliche Fähigkeit. Wenn wir erkennen, dass unser Handeln die Bedürfnisse anderer nicht erfüllt, können wir ihr Leiden nachvollziehen.
2. Angst
Ein schlechtes Gewissen kann aber auch aus der Angst entstehen, von anderen negativ bewertet zu werden. Gedanken wie „Was denken die anderen jetzt über mich?“ haben evolutionäre Wurzeln, da Zugehörigkeit früher überlebenswichtig war. Menschen mit perfektionistischen Tendenzen setzen sich oft unrealistisch hohe Standards, was schnell zu Schuldgefühlen führt. Manchmal entstehen diese Gefühle auch durch übermässiges Grübeln oder übertriebene Selbstkritik. Ein Satz von Robert Betz ist mir in diesem Zusammenhang besonders in Erinnerung geblieben: „Jetzt habe ich mich wieder schlecht gedacht!“
3. Innerer Konflikt
Oft ist ein schlechtes Gewissen Ausdruck eines inneren Konflikts, da es aus widersprüchlichen inneren Stimmen, Werten oder Bedürfnissen resultiert. Diese gegensätzlichen Impulse erzeugen emotionale Spannungen, die sich als Schuldgefühle äussern. Ein Beispiel hierfür ist der Konflikt zwischen der moralisch-sozialen Stimme, die sagt: „Ich sollte immer für andere da sein“, und der Stimme der Selbstfürsorge, die betont: „Ich brauche Zeit für mich und kann nicht immer helfen.“ Das schlechte Gewissen signalisiert diesen Widerspruch, häufig verstärkt durch Glaubenssätze wie: „Wenn ich nicht für andere da bin, bin ich ein schlechter Mensch“, „Gute Menschen helfen immer anderen“ oder „Wenn ich Nein sage, mag mich niemand mehr.“
Hier treffen kulturelle und soziale Prägungen, Perfektionismus, überhöhte Erwartungen und die Angst vor Ablehnung, alles in der Regel Kindheitserfahrungen, aufeinander – und schon ist das schlechte Gewissen da! Es ist daher wichtig, sich dieser Mechanismen bewusst zu werden und einen liebevollen, reflektierten Umgang mit dem eigenen schlechten Gewissen zu entwickeln.
Das schlechte Gewissen als Form der Selbstverurteilung
Ich möchte das noch etwas genauer beleuchten, denn heruntergebrochen könnte dein schlechtes Gewissen eine Form der Selbstverurteilung sein. Es entsteht, wie ich bereits erwähnt habe, wenn du glaubst, gegen eine wichtige Regel, Norm oder einen Wert verstossen zu haben – sei es eine gesellschaftliche Erwartung oder eine persönliche Überzeugung. Statt die Situation neutral zu bewerten (das wäre der erste Schritt in der GFK), richtet sich der Fokus auf die eigene Schuld und vermeintliche Unzulänglichkeit. Nicht selten treten dann bestimmte Gedanken und Grundüberzeugungen auf – also Glaubenssätze, die ich basierend auf dem Konzept von Marshall B. Rosenberg „Wurzelwölfe“ nenne:
• Ich hätte es besser machen müssen. (= Ich war nicht gut genug.)
• Ich hätte Nein sagen sollen. (= Ich habe versagt.)
• Ich darf andere nicht enttäuschen. (= Mein Wert hängt von ihrer Zufriedenheit ab.)
• Ich bin egoistisch, wenn ich an mich denke. (= Meine Bedürfnisse sind weniger wert als die der anderen.)
Welche dieser Glaubenssätze erkennst du bei dir selbst? An alle Perfektionisten: Prüfe bitte, ob du dir eventuell unrealistische Ziele setzest und dich innerlich bestrafst, wenn du diesen nicht gerecht wirst. Fehler dürfen als ein natürlicher Bestandteil des Menschseins verstanden werden. Ein schlechtes Gewissen darf zu Veränderung und Wachstum führen, anstatt dich zu lähmen. Wenn es das nicht tut, ist Leiden vorprogrammiert.
Viele Menschen bleiben in der Schuld stecken, ohne sich selbst zu vergeben. Doch anstatt dich selbst zu verurteilen, geht es darum, Verantwortung zu übernehmen und zu erkennen, was dahintersteckt – nämlich deine Werte und Bedürfnisse. Dadurch kannst du wieder ins Handeln kommen und dafür sorgen, dass mehr Bedürfnisse erfüllt werden – sowohl bei dir als auch bei anderen.
Wenn Schuldgefühle dich jedoch ständig herunterziehen, anstatt dir Einsicht, Veränderung und somit Entwicklung zu ermöglichen, dann bist du in einer Selbstverurteilungs-Schleife gefangen.
Was bedeutet das konkret? Ich habe bereits die Ursachen benannt – also die Gedanken, die häufig mit einem schlechten Gewissen verbunden sind – sowie die Symptome wie Grübeln, Sorgen, Unruhe und Selbstverurteilung. Die Schuld, die damit einhergeht, ist nicht nur eine kognitive Entscheidung, sondern tief im Nervensystem verankert. Sie kann auch zu körperlichen Symptomen führen, wie einer allgemeinen inneren Anspannung, Muskelverspannungen, einem Engegefühl in der Brust, Druck im Magen oder Kopfschmerzen. Was ebenfalls passieren kann, ist, dass du dich körperlich erschöpft fühlst – also eine Energielosigkeit erlebst, die bis hin zur Hoffnungslosigkeit oder sogar zu Depressionen führen kann.
« Doch anstatt dich selbst zu verurteilen, geht es darum, Verantwortung zu übernehmen und zu erkennen, was dahintersteckt – nämlich deine Werte und Bedürfnisse. Dadurch kannst du wieder ins Handeln kommen und dafür sorgen, dass mehr Bedürfnisse erfüllt werden – sowohl bei dir als auch bei anderen. »
Das schlechte Gewissen als moralischer Kompass
Trotz seiner unangenehmen Natur kann dir ein schlechtes Gewissen dabei helfen, moralisch zu handeln, die Bedürfnisse anderer zu berücksichtigen und dich weiterzuentwickeln. Es kann als eine Art moralischer Kompass und als Wegweiser für deine Werte und Bedürfnisse dienen, anstatt dich in Selbstverurteilungs-Schleifen gefangen zu halten.
GFK kann dir helfen, diesen Kreislauf zu durchbrechen, indem sie Selbstempathie fördert und eine wertfreie Betrachtung der Situation ermöglicht. Sie unterstützt dich dabei, dich nicht in negativen Selbsturteilen zu verlieren, sondern die Situation neutral zu reflektieren und dich selbst besser zu verstehen. Das stärkt dein Selbstverständnis.
Selbstempathie – für mich die absolute Basis der GFK – bedeutet, die eigenen Werte und Bedürfnisse zu erkennen und anzuerkennen. Wenn du immer wieder mit einem schlechten Gewissen «kämpfst», könnte es sein, dass du dich zu sehr an den Erwartungen anderer orientierst. Eine hilfreiche Frage zur Selbstreflexion ist: „Was sind MEINE Werte und Bedürfnisse – unabhängig davon, was andere von mir erwarten?“
Hinter jedem Verhalten, auch dem eigenen, stehen also grundlegende Bedürfnisse, die oft übersehen werden, wenn du dich ausschliesslich auf deine Selbstverurteilung konzentrierst. GFK lenkt die Aufmerksamkeit auf diese Bedürfnisse und zeigt Wege auf, sie auf eine gesunde Weise zu erfüllen – ohne dich schuldig zu denken.
Indem GFK dazu anregt, die eigenen Werte und Bedürfnisse bewusst wahrzunehmen, hilft sie dir, dich von äusseren Erwartungen zu lösen und Unsicherheiten abzubauen. Wer mit GFK oder anderen Methoden an seinem Selbstwert arbeitet, wird unabhängiger von der Meinung anderer. Ebenso ist das Setzen gesunder Grenzen und das Erlernen, „Nein“ zu sagen, ein essenzieller Schritt, um sich vor schlechtem Gewissen zu schützen.
Auf diese Weise fördert GFK eine tiefgehende Selbstreflexion, in der das schlechte Gewissen nicht mehr als Belastung, sondern als Wegweiser für unerfüllte Bedürfnisse und persönliche Werte dient – eine Chance, bewusste Entscheidungen zu treffen und echte Verbindungen zu schaffen.
In den Seminaren der Empathie-Werkstatt kannst du mit Hilfe von GFK lernen, deine Bedürfnisse besser wahrzunehmen, Selbstempathie aufzubauen und dein Selbstwertgefühl zu stärken.